Weltflucht im Schach

Nachstehender Artikel erschien zwar bereits im Jahr 2000 in der Berliner Zeitung (s. auch das Nachwort von Frank Hoppe), dennoch ist er nicht unbedingt veraltet, und vor allem für die “Nachzügler”, die ihn vermutlich noch nicht kennen, ein netter Einblick in die Berliner Szene einst (und heute?).

 

Weltflucht im Schach

von Sieglinde Geisel

Ein Verein in Prenzlauer Berg: Zur Wirklichkeit haben die Spieler Distanz. Sie leben in Geschichten

Die Parterrewohnung in Prenzlauer Berg ist nicht renoviert, die Räumlichkeiten sind nüchtern. Im Turnierzimmer herrscht Stille, man hört nur die Schachuhren ticken. Im Rauchsalon dagegen ist es hektisch und laut, hier wird Blitzschach gespielt. Nach jedem Zug knallt die Hand auf den Stift der Schachuhr, wenn man für eine Partie nur fünf Minuten Zeit hat, geht es um Sekunden. Die Zuschauer haben meist eine Bierflasche in der Hand, die Luft ist schwer vernebelt. Dabei ist es noch nicht einmal neun Uhr abends. In einem Regal liegen Formulare: “Deutscher Schachclub der DDR” steht in jener klotzigen Schrift, die man schon fast vergessen hat. Im Rauchsalon hängen altmodische Schachposter mit erbaulichen Sprüchen: “geistig fit bis ins hohe Alter”, oder: “ob jung oder alt, gemeinsam aktiv sein”. Als wäre Schach ein unschuldiges Familienvergnügen.

Von der Spielstärke her gehört B. zu den schwächeren Berliner Schachvereinen. Unschlagbar ist der Club jedoch in puncto Vereinsleben: Nur hier gibt es Bockwurst und Stullen, und bei den meisten anderen Vereinen ist abends um zehn Uhr Schluss. Andreas findet die Atmosphäre “noch eins unter Mitropa”, er kommt wegen der Leute hierher – ein Satz, den man öfters hört. Die Gemeinschaft beim Schach sei allerdings meist eine Täuschung. Die wenigsten treffen sich auch außerhalb der engen Schachwelt und gesprochen wird nur über das, was auf dem Brett stattfindet: mutige Eröffnungen, raffinierte Züge, riskante Opfer.

Schach ist eine sublimierte Form des Männerbündlerischen, die grobe Maskulinität des Stammtischs oder des Fußballklubs fehlt hier völlig. Über die Frage, warum das Schachspiel überwiegend Männer anziehe, gibt es haufenweise Theorien. Da auffallend viele Schachspieler Schwierigkeiten mit Beziehungen zu Frauen haben, sei die Konzentration aufs Schachspiel eine Kompensation für die verdrängte Sexualität sowohl gegenüber dem eigenen als auch gegenüber dem anderen Geschlecht. Mindestens die Hälfte der berühmten Spitzenspieler ist ohne Vater aufgewachsen: Wie der König im Märchen stehe auch die Königsfigur im Schach für den abwesenden Vater. Sowohl der Angriff auf den feindlichen als auch die Identifikation mit dem eigenen König sei ein unbewusster Ersatz für die Auseinandersetzung mit dem Vater. Wie für jede Regung des Menschen bietet die Psychoanalyse auch für die Schachleidenschaft die abenteuerlichsten Theorien. Hier wird das Geschehen auf dem Schachbrett als Inszenierung des ödipalen Dramas gedeutet. Der Sieg über den Gegner symbolisiere den Vatermord, womit der Sohn seinen stärksten Gegner im Kampf um die Liebe der Mutter ausschaltet. Gern wird dabei auch auf die phallische Gestalt der Figuren hingewiesen: Im unbeweglichen, verwundbaren König, von dem doch alles abhängt, wollen manche eine Inkarnation des Penis sehen – schachmatt entspricht demnach einer symbolischen Kastration.

Der Schachverein B. gilt als Chaotenclub, neben dem Schach wirkt der Alkohol als “der andere Seelentröster”, und die wenigsten haben in ihrem sonstigen Leben das, was man “geordnete Verhältnisse” nennt. Zu DDR-Zeiten war die Existenz als hauptamtlicher Schachspieler nicht ungefährlich, denn wer nicht arbeiten ging, stand als Asozialer mit einem Bein im Knast. Ausgerechnet im kapitalistischen Westen ist die ökonomische Verweigerung einfacher geworden: Sozialhilfe und Arbeitslosengeld haben das Leben am Rand der Gesellschaft vom unmittelbarsten Druck befreit.

Im Schachverein B. ist nicht nur das Ambiente ein Stück konservierte DDR, ein Teil der Mitglieder stammt aus der DDR-Zockerszene, die sich im Volkspark Friedrichshain hinter dem Sport- und Erholungszentrum zum verbotenen Glücksspiel getroffen hatte. “Da wurden Werte bewegt: Es ging um Tausende von Mark”, erzählt Andreas. Neben Schach wird Backgammon und Karten gespielt. Mit dem wechselnden Spielglück und -geschick lässt sich die Sozialhilfe aufbessern, ohne dass das Amt davon etwas mitkriegt. Andreas erhält nicht einmal Sozialhilfe. Ein Freund wollte ihm beim Antrag helfen und nahm in aufs Sozialamt mit. Leider war es das falsche, also schöpfte die Behörde Verdacht, er wolle doppelt abkassieren. Seither hat sich Andreas nicht mehr auf ein Amt getraut. In seiner Einzimmerwohnung gibt es seit zwei Jahren weder Strom noch Telefon. Für die Miete kommt seine Familie auf, sonst wäre er möglicherweise auf der Straße gelandet. Andreas verdient manchmal etwas Geld mit dem Renovieren von Wohnungen. Sonst spielt er Schach, bis zu acht Stunden am Tag.

Immer scheint es ein einziger unbedachter Zug gewesen zu sein, der die Katastrophe heraufbeschwört.

In Lichtenrade finden die offenen Berliner Meisterschaften statt: Ein großer, stiller Saal voller Spieltische. Nur die Schachuhren ticken gegeneinander an: Als würden winzige Pferdchen um die Wette traben, holen die geschäftigen Rhythmen einander ein, ticken für kurze Zeit im gleichen Takt und fächern sich dann wieder auf. Die Konzentration auf den Gesichtern ist mit Händen zu greifen: Züge werden vorausberechnet, Varianten erwogen, Fallen gestellt. Die unermüdlichen Schachuhren machen die Denkanstrengung hörbar und die Zeit, die den vor sich hinbrütenden Spielern im Nacken sitzt.

Der kleine Atila Figura, deutscher Meister unter den Zehnjährigen, zieht einen Zug gegen seinen erwachsenen Gegner, gleitet vom Stuhl und wandert zwischen den Brettern herum, bis sein Gegenspieler sich entschieden hat. Beim Endspiel ist es mit der Gelassenheit vorbei, gespannt rutscht er auf dem Stuhl hin und her. Er kann den nächsten Zug kaum erwarten, seine Antwort scheint er oft schon parat zu haben, bevor der Gegner gezogen hat. Wer bereits gewonnen oder verloren hat, sitzt draußen im Foyer, hier werden die Partien analysiert. Immer scheint es ein einziger unbedachter Zug gewesen zu sein, der die Katastrophe heraufbeschwört. Peter vom Schachclub B. hat auch hier eine Bierdose in der Hand. Er hat eben eine Partie gewonnen, und es gelingt ihm nicht ganz, den Triumph in seinen Augen zu verbergen. Schach sei ihm nicht mehr so wichtig wie früher, meint er, trainieren tue er kaum noch, der Ehrgeiz verliere sich mit der Zeit.

Mit Schachspielen hatte er 1984 angefangen, nachdem er wegen eines Ausreiseantrags seine Stelle als Lagerleiter verloren hatte. Er spielte Freiluftschach im Volkspark Friedrichshain, meist um Geld. Mit ein paar Gelegenheitsjobs reichte das zum Leben, “man brauchte ja nicht viel”. Ein paar Jahre später fing er an, auf der Pferderennbahn zu wetten. Er hatte tausend D-Mark gespart, damit wollte er sich ein Rennpferd kaufen. Nach der Wende jedoch gingen alle Pferde in westdeutsche Hand. “Ich hatte eben keine sechstausend D-Mark.” Das Pferd, auf das er damals ein Auge geworfen hatte, hat in den letzten vier Jahren Prämiengelder von 150 000 Mark eingelaufen. “Davon könnte ich jetzt leben. Na ja, ich weiß schon, da hat man auch Ausgaben. Aber man kann auf das eigene Pferd ja auch noch wetten, das erhöht dann die Gewinnsumme noch einmal kräftig.” Zurzeit lebt Peter von Arbeitslosengeld, “und manchmal kommt etwas von oben”. Jetzt gerade hütet er zum Beispiel das Haus seiner Schwester. Die Katze ist ihm abgehauen, er hat sie heute schon mit dem Rad gesucht.

“Dass sie nicht trainieren, sagen sie alle. Glaub s keinem”, sagt Franz. Er kultiviert den Exzess: Vor einem Turnier schließt er sich drei Tage ein und studiert Partien – mit der gleichen Konzentration, mit der er Kafka oder Dostojewski liest. “Ich will das Lesen nicht unterbrechen. Wenn ich Dostojewski lese, dann möchte ich als Raskolnikow aufwachen.” Die Lektüre bereite er vor wie eine Schlacht, fünfzehn Stunden am Stück habe er letzte Woche “Schuld und Sühne” gelesen, ein Buch, zu dem er immer wieder zurückkehrt. “Da mache ich es mir richtig gemütlich. Drei Kissen lege ich mir unter den Kopf, eines unter die Beine, damit die nicht wegrutschen.”

Wenn Schachspieler sagen, dass sie wegen der Leute beim Schachverein B. mitspielen, dann meinen viele in erster Linie Franz. Zur Wirklichkeit hat Franz eine rätselhafte Distanz, denn er lebt in Geschichten, wahren und fiktiven. Schon wie es kam, dass er DDR-Bürger wurde, ist eine Geschichte: Nur durch Zufall nämlich war er am 13. August 1961 in Prenzlauer Berg bei seinen Eltern und nicht in Wedding bei seiner Großmutter, wo er auch zur Schule ging. Franz liebt die Absurdität der feinen Details. “Nach dem 13. August durfte in der Staatsoper Verdis Nabucco ein ganzes Jahr lang nur noch ohne den Gefangenenchor gespielt werden.” Oder zitiert eine von Goebbels letzten Meldungen an das deutsche Volk: Ab sofort werde keine Hundesteuer mehr erhoben. “Da standen die Russen schon bei Weißensee”, meint Franz mit einem Ernst, als könne man daraus etwas lernen. Seine Ironie ist ein flüchtiger Stoff, man muss ihn reden hören, den schnellen, perfekten Rhythmus seines Erzählens im Ohr haben. Franz spontane Poesie scheint in genau dem Moment zu entstehen, in dem er sie ausspricht – vergleichbar einem improvisierenden Musiker. Beim Turnier hält er sich nicht lange mit Sieg oder Niederlage auf. “Gestern habe ich so witzig gespielt, bin die Partie abends im Bett noch einmal durchgegangen, da musste ich dauernd kichern.” Seine Gegner unterhält er mit eigenwilligen Sprüchen. “Was weg ist, brummt nicht mehr.” Oder: “Das sind Kombinationen, da bleibt kein Auge trocken.”

Schach bringt wenig Anerkennung. “Die Leute sind beeindruckt, solange man Schach nebenher spielt”, meint Andreas. “Macht man es zur Hauptbeschäftigung, dann ist es mit der Bewunderung vorbei.” Deshalb berührt die Frage, ob Schach im Lebensmittelpunkt stehe, ein Tabu: Wer nicht zu den Spitzenspielern gehört, macht sich damit lächerlich, denn dann rechtfertigt der Mangel an Talent den Zeitaufwand nicht. Die schachliche Leistung ist die einzige Rechtfertigung fürs intensive Spielen, Geld verdienen lässt sich damit nicht. Warum also entscheidet sich jemand dafür, das Schachspiel trotzdem zur Hauptsache seines Lebens zu machen?

“Mit Schach kannste alles kompensieren”, sagt Heinz ohne zu zögern. Das gilt auch für ihn: Früher hatte er Fußball gespielt, bis ein kaputter Rücken dem Sport ein Ende setzte. “Ich hatte mich über Kraft definiert. Jetzt kann ich nicht mal alleine Kohlen klauen. Die Umstellung war hart.” Seine Leidenschaft für Schach hatte er in Indien entdeckt, dem Ursprungsland des Spiels. Ab dem 6. Jahrhundert vor Christus lassen sich Vorläufer des modernen Schachspiels in Indien nachweisen: “Chaturanga” war ein Kriegsspiel für vier Spieler, später wurde daraus “shatranj” für zwei Spieler. Beide Spielformen zeichneten sich dadurch aus, dass die verschiedenen Figuren je verschiedene Kräfte haben und dass sich der Sieg an einer einzigen Figur entscheidet: dem König. Durch den Handelsverkehr auf der Seidenstraße und durch buddhistische Pilger kam das Spiel nach Europa.

Während der zwei Jahre, die er in Indien verbrachte, spielte Heinz in jedem Dorf gegen den besten Schachspieler. “Die Inder sind fanatisch, aber sie spielen schlecht.” Obwohl er wenig Training hatte, gewann er meistens. Zurück in Berlin stand er vor der Entscheidung, ob er sich als Fotograf eine Existenz aufbauen sollte. Die finanzielle Investition für eine professionelle Ausrüstung war ihm jedoch zu riskant. Schach kostet nichts – so beantragte er Sozialhilfe und widmete sich während der nächsten beiden Jahre vorwiegend dem Spiel. Inzwischen hat er einen schlecht bezahlten aber interessanten Job als Fotograf, beim Schach reiche es allerdings nur noch zur Schadensbegrenzung.

Andreas hatte 1991 durch die Abwicklung des Betriebes seine Stelle verloren. Damals begann er, sich intensiv dem Schach zu widmen; an manchen Tagen trainierte er acht Stunden. Seine raschen Fortschritte nährten die Hoffnung, vielleicht irgendwann vom Schach leben zu können. Kürzlich jedoch hat er beschlossen, sich für ein halbes Jahr völlig vom Schach zurückzuziehen. Um die Hürde für einen Rückfall höher zu setzen, hat er allen im Verein von seinem Entschluss erzählt. Ein verpatztes Turnier war dabei nur der Auslöser – seine Familie hatte ihm vor einiger Zeit die finanzielle Unterstützung entzogen. “Es gibt für mich Dinge, die ich nicht riskieren kann, zum Beispiel Obdachlosigkeit.” Allerdings hätte er sich vor einigen Jahren auch noch nicht vorstellen können, so lange ohne Strom und Telefon zu leben. In dem halben Jahr der Schach-Abstinenz will er sein Leben in Ordnung bringen. Sein Ziel ist dabei nicht unbedingt ein fester Job. “Sozialhilfe wäre auch schon etwas.”

Ist das Schach an seiner prekären Situation schuld? So würde er es nicht sagen – Schach brauche viel Zeit, das sei für Außenstehende nicht immer einzusehen. Ihm gehe es nun darum, das Schach auf einen anderen Platz in seinem Leben zu verweisen. “Schach ist ein unglaublich effizienter Wirklichkeitsverdränger.” Andreas träumt manchmal ganze Schachpartien. Er hofft, eine Distanz zum Schach zu gewinnen, wie er es bei Johannes sieht, “unserem Quoten-Wessi”. Tatsächlich ist Johannes der einzige Westler im Schachverein B., er ist auch einer der wenigen im Club, der Familie und Arbeit hat. “Wenn ich einen Tag Schach gespielt habe, dann sehe ich die Welt nur noch schwarz und weiß, ich habe dann kein Gefühl mehr für die Realität.” Er habe jedoch “einen kleinen Mann im Ohr”, der ihm sage, wann er aufpassen müsse. Schach spielt er freitags im Verein oft bis in die frühen Morgenstunden sowie ab und zu an einem freien Tag, wenn seine kleine Tochter nicht zu Hause ist. Nicht immer war Johannes so souverän. Die Schachleidenschaft habe zum Abbruch seines Germanistikstudiums beigetragen. Danach arbeitete er Teilzeit als Psychiatriepfleger, lebte mit einem Minimum an Geld und möglichst ohne gesellschaftliche Reibungsflächen. Weil der große Erfolg im Schach ausblieb, löste er sich allmählich vom Spielen.

Niemand fährt zu so vielen Turnieren wie Martin. Es soll vorkommen, dass er eine Partie nicht zu Ende spielen kann, weil er am gleichen Tag zu einem zweiten oder gar dritten Turnier antritt. Berufliche Ziele hat er nie mit einer vergleichbaren Leidenschaft verfolgt: Für das Studium der Kernenergietechnik hatte er sich zu DDR-Zeiten entschieden, weil er damit nur neun Monate zur Armee musste. Nach der Wende bewarb er sich an der Hochschule der Künste mit sechzig anderen Kandidaten für einen der vier Studienplätze als Tonmeister, ohne Erfolg. Nun hat er Psychologie studiert, eine Diplomarbeit schreiben will er vorerst jedoch nicht, “ich wüsste auch gar nicht, worüber.” Mit Gelegenheitsjobs hält er sich über Wasser: Küchendienst bei Mövenpick, Arbeit auf dem Bau, Einsätze als Bühnentechniker. Vor einem halben Jahr ist die Beziehung mit seiner Freundin in die Brüche gegangen. Martin träumt von einer bürgerlichen Zukunft – er sei jedoch zu scheu, um sich wieder eine Freundin zu suchen und zu defensiv, um eine Berufskarriere zu verfolgen. Dabei ist ein Gegengewicht im Leben sogar für das Schach von Vorteil. Er hat die Erfahrung gemacht, dass sein Spiel dann freier, riskanter und damit besser wird. “Spieler, die nichts haben außer Schach, verlieren bei Turnieren mehr als nur eine Partie. Es ist ein Stück Identität.”

Schach ist eine Welt für sich. Auf dem Schachbrett tummelt sich ein stilisierter Mikrokosmos: König, Turm, Dame, Läufer, Springer und Bauern – das ist das Personal einer höfischen Welt, in der altmodische Kriege gefochten werden. Jede Welt hat ihre Sprache; beim Schach ist der Jargon von der Dramatik des Kampfspiels geprägt: “da brennt die Luft”, “über die Dörfer gehen”, “in Beton spielen”, “Krawall machen”. Schach ist nicht nur ein Spiel, sondern auch eine Wissenschaft: In den letzten hundertfünfzig Jahren hat sich die Theorie der gedanklichen Kriegführung enorm verfeinert. Tausende von Büchern widmen sich einem bestimmten Eröffnungstyp, andere erforschen die Bauernstrategie oder Stellungen im Endspiel.

Das abstrakte System des Schachs führt in den Köpfen der Spieler ein Eigenleben. Andreas etwa kann eine Partie während einer Woche im Kopf behalten. Martin ärgert sich noch nach Jahren über Züge, die ihn einen Sieg gekostet haben. Natürlich findet der Kampf nicht nur auf dem Brett statt, sondern auch zwischen den beiden Menschen, die sich gegenübersitzen. Die psychologische Kriegführung im Schach bedient sich aller Mittel, um den Gegenspieler aus der Ruhe zu bringen. Man merke schnell, was der Gegner für ein Typ sei, bemerkt Franz. “An der pingeligen Art, wie einer das Protokoll führt, zeigt sich schon der Schrebergarten, mit Hecke drum herum und Gartenzwerg. Der weiß schon jetzt, wo er mit seiner Frau in zwei Jahren Silvester feiern wird. Dann machst du ein Loch in die Hecke – und auf einmal siehst du den Panzer stehen.”

Für ein Improvisationstalent wie Franz sind die gängigen Regeln der Kunst nur wieder Spielmaterial. “Ich spiele kein Funktionärsschach.” Schachspielen gegen Franz sei wie Schattenboxen, meint Christoph – man wolle eine Figur schlagen, da bedrohe sie bereits auf einem anderen Feld. Eiskalt halte Franz eine Gefährdung seiner Stellung aus, während er über zehn Züge hinweg eine doppelte Bedrohung aufbaut, die den siegessicheren Gegner zur Verzweiflung treibt. Wer die Nerven hat, kann die begrenzte Zeit als Waffe nutzen: Nachdem Franz einen Gegner in den letzten Minuten mit ein paar blitzschnellen Zügen matt gesetzt hatte, war dieser zu verstört, um ihm zu gratulieren. “Das ist Schach aus der Psychiatrie!” rief er aus.

Nur beim Fernschach herrscht kein Zeitdruck: Drei Tage ist Zeit für den nächsten Zug. In bewegten Zeiten kann dieses Zeitlupentempo die Weltgeschichte außer Kraft setzen. 1993 belegte die DDR-Mannschaft in der Fernschach-Olympiade den dritten Platz. Als der Wettkampf 1988 begonnen hatte, ahnte niemand, dass der Mannschaft demnächst ihr Staat abhanden kommen würde.

Beim Schach gehe es um Ausnahmen, meint Martin. “Man kommt nur weiter, wenn man Denkstrukturen sprengt.” Vieles bleibe dabei im Dunkeln – für das Unerklärliche sei die Schachgöttin Caissa zuständig. Caissa ist nicht nur eine Frau, sondern eine Nymphe, der Inbegriff des unergründlich Weiblichen – dem Mythos zufolge vermag ihm bekanntlich kein Sterblicher zu widerstehen. Caissa ist eine Erfindung des Orientalisten Sir William Jones, sie entstammt einem Gedicht von 1763, in dem Jones beschreibt, wie der Kriegsgott Mars das “nachdenkliche Spiel” erschafft. Für Martin ist Schach nicht nur ein Kampfsport und eine Wissenschaft, sondern auch eine Kunst. “Die große Faszination des Schachspiels besteht im Wissen, dass man in jeder Partie etwas Großartiges schaffen könnte, ein Juwel – so etwas wie die unsterbliche Partie.”

Spieler, die nichts haben ausser Schach, verlieren bei Turnieren mehr als nur eine Partie. Es ist ein Stück Identität.

Mitte des 19. Jahrhunderts gelang dem deutschen Schachmeister Adolf Anderssen ein spektakulärer Sieg, nachdem er sechs “Puppen” geopfert hatte – ein Meisterwerk der romantischen Epoche des Schach, als riskante Opfer und das schöne Spiel im Vordergrund standen. Damals war die Verteidigung noch wenig erforscht – heute könnte man mit solch heroischen Opfern kein Spiel gewinnen. In den letzten Jahren ist das Niveau im Schach nicht nur wegen der Theoriebildung gestiegen, sondern mehr noch durch den Computer. “Ich bin der letzte Ritter hier, komme noch an mit Schild und Schwert”, sagt Franz beim Turnier in Lichtenrade. Die anderen würden ja längst mit Laserpistolen kämpfen. Er überlegt, ob er sich vielleicht doch einen Schachcomputer anschaffen solle. “Aber das passt nicht zu mir. Das wäre, wie wenn Don Quichote mit einem Raketenwerfer daherspaziert.”

Die geistige Leistung des Schachs wird von der Gesellschaft kaum gewürdigt. Nur schon der Satz: “Ich könnte nie so lange still sitzen” signalisiere ein Missverständnis, sagt Martin. “Das sieht nur so aus. Die Erregung und Leidenschaft der Spieler bleiben dem Betrachter verborgen. Da herrscht ein ungeheurer Druck. Die Sache hat Tempo, man hat wenig Zeit für einen Zug.” Bei Turnierpartien ist die Zeit auf fünf Stunden begrenzt. Sollte während dieser fünf Stunden tatsächlich ein Juwel gelingen, kann Beifall nur von den wenigen kommen, die selbst gut genug spielen, um das Schmuckstück zu verstehen. Wer als Kiebitz einmal den Versuch gemacht hat, in Gedanken den nächsten Zug vorherzusagen, weiß, wie selten die Prognose zutrifft. In der Regel ist Laien die Entscheidung der Spieler völlig rätselhaft, vor allem im Endspiel, wo nur noch wenige Figuren auf dem Brett stehen. “Je weniger Figuren man hat, desto abstrakter wird das Spiel”, erklärt Christoph.

In keiner anderen Sparte muss das Publikum dem Künstler das Wasser reichen können, um an seiner Kunst teilzuhaben: Eine Beethoven-Sinfonie genießen wir zum Beispiel, ohne selbst komponieren zu können. Manchmal spüre er schon einen gewissen Neid auf den Tennissport, wo die ganze Welt sieht, was geleistet wird, sagt Martin. Als Ersatz für den tosenden Beifall der Massen erkämpfen sich die aktiven Spieler eine dürre Zahl, die in der Schachwelt als Identitätsausweis gilt: Das standardisierte Elo-Punktesystem weist einen Platz in der Weltrangliste zu. Wer in einem Turnier gegen einen punktschwächeren Gegner spielt, muss gewinnen, um seine Zahl halten zu können. Verliert er, büßt er Punkte ein.

Das Schachspiel wird von der Gesellschaft nicht wahrgenommen – umgekehrt kümmert sich das Schach auch nicht um die Werte, welche die Gesellschaft für sakrosankt erklärt. Die Ökonomie des Schachs funktioniert ohne Geld. Im Schachverein B. sind die Monatsbeiträge im Abstand von einer Mark gestaffelt: Angestellte bezahlen zwölf Mark, Arbeitslose sieben, Studenten sechs, Sozialhilfeempfänger fünf und Schüler drei Mark – und selbst diese Beträge kann man anschreiben lassen. Die Preisgelder bei Turnieren liegen im höchsten Fall bei dreitausend Mark für den ersten, zweitausend für den zweiten und tausend für den dritten Platz, meist jedoch weit darunter. Bei Mannschaftsturnieren bezahlen Vereine besonders guten Spielern manchmal unter der Hand ein Antrittsgeld – auch dieses jedoch beträgt nicht mehr als ein paar hundert Mark. Schach ist kein Massensport: Einzig für Medienstars wie Kasparow oder Karpow lassen sich Sponsoren finden.

Der internationale Schachverband Fide stand vor einigen Jahren vor dem Bankrott, und dies dürfte denn auch der Grund sein, warum Kirsan Ilyumschinow, der Präsident der winzigen Republik Kalmückien, zum Schachpräsidenten gewählt wurde. Durch besondere schachliche Leistungen hat er bisher nicht von sich reden gemacht, umso mehr dagegen durch seine Millionen. Niemand weiß, ob sie von der Mafia stammen oder aus den Staatskassen seines verarmten Landes, denn die Bürger Kalmückiens müssen für die Schachleidenschaft ihres exzentrischen Präsidenten Sondersteuern bezahlen. Zur Schacholympiade 1998 ließ Ilyumschinow in der Hauptstadt Elista eine Schachstadt bauen. Obwohl das Schach in dem buddhistischen Staat keine Tradition hat, ist es in der Schule Pflichtfach, wie übrigens auch im Schachdorf Ströbeck im Harz – seit 1823 gibt es dort Schachunterricht in der Schule. Nach dem ungeklärten Auftragsmord an einer Journalistin, die Ilyumschinows Geldangelegenheiten recherchiert hatte, gab es Boykottaufrufe gegen die Schacholympiade. Der 38-jährige Provinzfürst, der nicht nur beim Dalai-Lama Lama und dem Papst Audienz erhielt, sondern auch Saddam Hussein zu seinen Freunden zählt, genießt als Schachpräsident ansonsten jedoch erstaunliche Akzeptanz.

“Wer im Leben nichts geworden ist, dem ersetzt Schach den Abenteuerurlaub”, meint Franz, aus dem, konventionell gesprochen, in der Tat nichts geworden ist. Dies jedoch hat nichts zu besagen, denn seine Existenz steht außerhalb aller Kategorien: Er ist der einzige echte Bohemien in Prenzlauer Berg. Bis 1981 war er schwerer Alkoholiker, seither ist er trocken, jedoch ohne sich eine bürgerliche Ersatzwelt geschaffen zu haben. Arbeiten mochte er nie, und es wäre auch niemandem geholfen, wenn man ihn acht Stunden am Tag in ein Büro setzen würde. Die Arbeitspflicht der DDR setzte ihn unter Druck, schließlich fand er eine Nische als Bühnenmusiker – er gehörte zu den Leuten, die Frank Castorf in die Verbannung ans Stadttheater Anklam folgten. Heute lebt er von Sozialhilfe. “Seit 1991 haben wir hier den Kommunismus” – das ist einer seiner schönsten Sätze. Er spielt in Friedhöfen auf Trauerfeiern Harmonium, das Honorar von gut vierzig Mark wird mit der Sozialhilfe verrechnet. Sein Hauptproblem ist der Schlaf: Er geht meist gegen sechs Uhr früh ins Bett, und wenn er vor vier Uhr nachmittags aufstehen muss, ist das eine Quälerei.

Schach ist eine Gegenwelt, die niemandem genommen werden kann. Man braucht dazu nicht einmal ein Brett. Schach ist ein Gefängnisspiel, im belagerten Sarajewo soll es Hochkonjunktur gehabt haben. Dass die Sowjetunion traditionell die meisten und stärksten Schachspieler hatte, erstaunt genauso wenig wie die überproportionale Anzahl der Großmeister Islands: Sowohl im kommunistischen Imperium als auch auf der winzigen Insel waren die Grenzen gesetzt. Schach ist eine Verführung, denn am Anfang geht es schnell voran. “Da denkst du, wenn das so weitergeht, bin ich in zwei Jahren Weltmeister”, meint Martin. Doch je weiter man den Berg hochsteige, desto schwieriger werde der nächste Schritt. “Oft ist es eine Illusion, dass man sich immer weiter verbessern wird, und manche vertrödeln damit ihr Leben.”

Der Lustgewinn beim Schach besteht nicht nur im Triumph des Sieges. “Man kann sich völlig in diesem Labyrinth verlieren, in das man immer tiefer eindringt”, beschreibt es Andreas, der inzwischen seine Anträge beim Sozialamt erfolgreich eingereicht hat. “Wenn ich nach fünf Stunden merke, dass ich völlig vergessen habe, wo ich bin, dann ist das eine Erfahrung, die man immer wieder haben möchte. Vor allem, wenn man so Probleme hat wie ich.” Das Leben hat keine Sicherheiten zu bieten – auf die Schachgöttin jedoch ist immer Verlass. “Sie verspricht nicht und enttäuscht nicht” sagt Martin. “Sie ist wie ein Haustier, das sich freut, wenn es gefüttert wird. Es schimpft nicht mit einem, es ist einfach da.” Schach sei oft die Ursache für Zukunftssorgen – und gleichzeitig das beste Mittel, diese zu verdrängen.

“Schach ist eine Sucht, die der Staat vergessen hat zu verbieten”, sagt Christoph. Er erzählt von Schachexzessen. Nach zwölf Stunden Blitzschach mit Franz ging er halb im Delirium nach Hause – als er die Türklinke in der Hand hielt, dachte er unwillkürlich: Ist das ein Springer oder ein Läufer?

Quelle: Berliner Zeitung 10./11.Juni 2000

 

Nachwort

Der Artikel erschien im Magazinteil der Berliner Zeitung vom 10./11.Juni 2000. Die Journalistin Sieglinde Geisel – eine Freundin des Schachfreundes Karl-Heinz Grünberg – hatte dazu etwa ein Jahr vorher im Umfeld des SV Berolina Mitte recherchiert. Nach Veröffentlichung des Artikels bedankte sich die Journalistin beim Verein mit einem üppigen Büffet, das sie von ihrem Honorar (2000 DM) bezahlte.

Der Artikel sorgte für viel Gesprächsstoff und mancher fühlte sich auf den Schlips getreten. Dabei sind die Spielernamen größtenteils frei erfunden, nur Insider wissen, um wen es geht.

Berolina spielte 1999 in der Dietrich-Bonhoeffer-Str.11 und der Vorsitzende Werner Windmüller beschäftigte sich jeden Freitagabend mit der Küche (auf dem Foto mit Bernd Hiller zu sehen). Das große Foto zeigt Martin Windmüller (links) und Frank Müller.

Frank Hoppe

(Anmerkung von GA: Da der Artikel mittlerweile nur noch im Internet-Archiv zu finden ist, sind die von Frank Hoppe erwähnten Bilder leider nicht mehr verfügbar)

3 Gedanken zu „Weltflucht im Schach“

  1. servus zusammen,
    der artikel ist schon ein wenig komisch. man muss ebend nicht alles auf die wagschale legen. zum glück ist eine sache schon mal up to date: schach ist ein männersport?, zum glück nicht, viele frauen und mädchen in unterschiedlichen alterklassen haben spaß und freude bei diesem spiel.
    ich beobachte seit langem die frauen/mädchen mannschaften und einzel spielerin, ich kann nur sagen, einfach großartig, und ich hoffe das mann und frau, mädchen und junge und gemischt spaß an diesem spiel haben. es ist doch einfach die schönste sportart der welt.

    also ran die bretter und los gehts!

    schöne grüße der lewi

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