Berliner Schachgeschichte(n), Ausgabe 12

Mein Vorhaben, dem Zusammenhang von Trinkkultur und der Entwicklung des Schachs in Berlin einige Ausgaben der “Berliner Schachgeschichte(n)” zu widmen, hat Corona im Frühjahr gestoppt. Den üblichen Beginn der Saison für Gartenwirtschaften wollte ich thematisch begleiten. Gemeinsam ein Hygienekonzept für den Verein zu entwickeln und unseren Sport wieder zu ermöglichen kostete jedoch alle Zeit.
Mit dem Beginn des zweiten Lockdowns hole ich dieses Vorhaben jetzt nach.

Im Apfelweinlocal

“Unter den großen Doctoren der “wilden Medicin,” neben den Wohlthätern der leidenden Menschheit, einem Goldberger, Bullrich, Kunzemann u. A. wird mit einer ganz besonderen Hochachtung der Importeur des Apfelweins, der berühmte freie Heilkünstler Petsch genannt.

Wie fast alle Schöpfer und Begründer neuer und erhabener Ideen sehen wir diesen Mann von Zeit zu Zeit vor den weltlichen Gerichten erscheinen, angeklagt einer Usurpation des rechtmäßigen Gebietes der Heilwissenschaft, und als Märtyrer seiner tiefsten Überzeugung einige Taler Strafe, nebst den dazu gehörigen Kosten an die Stadtgerichts- und Salarienkasse erlegen. Mit ihm treten gläubige Jünger als Zeugen auf, Lahme, die er von Knochenschäden geheilt, Unterleibskranke, deren Verdauung er wieder hergestellt, und scrophulöse Kinder, welche er von angeschwollenen Mandeln und dicken Kartoffelbäuchen befreit hat. Der Wundarzt hält eine begeisterte Prophetenansprache, die Zeugen vergießen Thränen der Freude und Dankbarkeit, und deren Richter, nachdem er das arme Opfer der bestehenden Gesetze, seiner Pflicht getreu, verdonnert hat, beschließt sofort noch am Abend desselben Tages Apfelwein zu versuchen, und wird vielleicht einer der eifrigsten Apostel des verurtheilten großen Mannes.

Werbung in Berliner Zeitungen

Die ärztliche Wirksamkeit des berühmten Petsch hat sich in Folge dieser, eigentlich auf seine Unterdrückung als “Mann der Wissenschaft” angelegten, in der That aber gleich der wohlberechneten Reclame wirkenden Ereignisse so gesteigert, daß bereits eine große stille Gemeinde von Petschianern existirt, welche sich einem regelmäßigen eifrigen Cultus des Apfelweins gewidmet hat. Ja so zahlreich ist diese eigenthümlich priesterlich-medicinische Secte, daß sie sich nicht mehr im Locale des ersten Importeurs von Apfelwein allein, sondern an verschiedenen Stellen in der Stadt versammelt, und bereits zahlreiche Schismatiker vorhanden sind, welche dem Apfelwein des Meisters den Vorwurf einiger Säure machen und den seiner späteren Nachahmer vorziehen. Ja selbst in dem benachbarten Schöneberg hat sich ein solcher Rival angesiedelt und versorgt die Schar seiner Anhänger mit mildem gegohrenem Apfelsaft. Wie vermag da ein heitrer Beobachter der Berliner Sitten und Anschauungen länger zu widerstehen, und so machten wir uns an einigen der letzten schönen Novembertage auf den Weg und besuchten mehrere dieser Mittelpunkte des Apfelweincultus. …
…, die angemessenste Unterhaltung für Apfelweintrinker ist Schach. Das nicht den geringsten Reiz auf das Nervensystem ausübende Getränk eignet sich vortrefflich zu einer Anfeuchtung der Kehle bei dem beschaulichsten, den Geist am sichersten von allen irdischen Dingen ableitenden Spiele der Menschen. Zuweilen zieht aber auch allein die in den Apfelweinhandlungen herrschende Klosterstille berühmte Schachspieler in diese Locale, und die gewöhnlichen “Holzschieber” unterbrechen dann ihre stümperhaften Partieen und zerbrechen sich, das Paar im Stehen umgebend, die Köpfe über die vollkommen unverständlichen Combinationen der Meister. Der Wirth schleicht aber auf den Zehen, im Rücken der Stellung umher, und füllt, nach leise und wispernd ertheilten Aufträgen, die geleerten Schoppen wieder aus der riesigen braunen Steingutkruke, in welcher sich der Pseudowein so frisch, wie in dem tiefsten Keller hält. Die Empfindlichkeit der Trinker gegen jedes Geräusch ist sehr merkwürdig. Jeder ungebührliche Laut erschreckt und veranlaßt sie, sich so krampfhaft hastig umzudrehen, wie ein Hund, hinter dem ein Mann mit einem eisenbeschlagenen Stocke vorüber stampft. …” [1]

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