Berliner Schachgeschichte(n), Ausgabe 10

Unbekanntes vom Bekannten

Ich bin selber daran schuld. Wie konnte ich mich nur dazu versteigen dem Autor Alan McGowan eine Rezension über sein Buch “Kurt Richter, A Chess Biography with 499 Games” (2018, Verlag McFarland) zu versprechen! Meine erste Fachbuchrezension. Mit Erschrecken stelle ich nun fest, dass ich lange kein fesselnderes Schachbuch in der Hand hatte! Eine kritische Rezension ist mir unmöglich.

Kurt Paul Richter (24.11.1900-29.12.1969) war nicht nur ein sehr starker Berliner Schachspieler, sondern auch ein fleißiger Schachautor. Drei Bücher vor 1933, neun Bücher während der Nazizeit, fünf Bücher in der Nachkriegszeit und zehn weitere Bücher in Westberliner Verlagen sind Belege seines Schreibdrangs.

„Unpolitisch“ zu bleiben ist mir für die Zeit nach dem 1. Weltkrieg kaum vorstellbar. In dieser Zeit jedoch absorbierte Kurt Richter Schach oder umgekehrt, das Schach absorbierte ihn. Während Deutschland mehrere ökonomische Krisen durch machte, einen weiteren Weltkrieg herbeiführte und durchlitt, zerbombt und zerteilt wurde – Kurt Richter spielte gerade Schach. Die redaktionelle Tätigkeit in Schachzeitschriften und Zeitungen der Weimarer Republik, der begrenzten Ära des Großdeutschen Schachbundes und des erfolgreichen DDR-Magazins SCHACH verschlang die meiste Zeit. Seine pointierte Art, komplizierte Varianten eingängig vorzuführen, verschaffte ihm Lesefreunde in aller Welt. Dass ihm die Nazis die Teilnahme an internationalen Wettbewerben verhinderten, dürfte sein Interesse an Politik gedämpft haben. DDR-Bürger wurde er durch den Wohnsitz in Berlin-Karlshorst. Auf der dortigen Rennbahn platzierte er gern die eine oder andere Pferdewette.

Sein Name ziert eine Reihe von Eröffnungen, zu denen er grundlegende Partien beisteuerte. Das Richter-Veresov-System im Damenbauernspiel, die Richter-Variante gegen die Französische Verteidigung und das Richter-Rauzer-System in der Sizilianischen Verteidigung sind Beispiele.

2 Gedanken zu „Berliner Schachgeschichte(n), Ausgabe 10“

  1. “Dass ihm die Nazis die Teilnahme an internationalen Wettbewerben verhinderten, dürfte sein Interesse an Politik gedämpft haben.”

    Auf welchen Fakten basiert diese Behauptung, mit der Richter quasi zum Opfer der Nazis stilisiert werden soll?
    Richter hat zwischen 1933 und 1945 an mehr internationalen Wettbewerben teilgenommen als in den Zeiten davor und danach.

  2. Ich habe mehrere Jahre mit dem Autor der m. E. besten Richter-Biografie, Alan McGowan, korrespondiert. Ungeklärt ist noch eine kurze Internierung Richters in einem russischen Lager kurz nach Ende des zweiten Weltkriegs. McGowan schreibt in seinem Buch “Kurt Richter – A Chess Biography with 499 Games (Verlag McFarland), S. 246: “While it would be some time before the first postwar German chess magazines appeared, it did not take long for Richter to be employed once again as a chess journalist, which indicates that the authorities found no negative associations in his past. Indeed, Rudolf Teschner [1] said that Richter hated politics and never belonged to any party. And Dr. Heinz Lehmann [2], a jurist, stated that Richter survived the Nazi era uncompromised and untainted.”
    [1] Schach Report 2/1995, S. 57; [2] Deutsche Schachzeitung 1970, S. 33
    Richter hat in internationalen Turnieren gespielt, sofern sie im Reichsgebiet oder besetztem Gebiet stattfanden. Eine Ausnahme ist das Turnier in Podebrady 1936. In Zusammenhang mit dem problembehafteten Verhältnis von FIDE und Großdeutschem Schachbund schreibt McGowan: “What this all meant for Richter was that just as he was approaching his peak playing years he lost the opportunity to display his skills not just at the 1933 Olympiad, but also those at Warsaw 1935 and Stockholm 1937.” O. a. Biografie, S. 97.
    Zur Olympiade Buenos Aires 1939 schreibt McGowan: “Even if Richter had been considered for the team, it is possible that aside from his dislike for travel he could not contemplate being away from his editorial responsibilities for so long.” O. a. Biografie, S. 199.
    Im Jahr 1942, im Alter von 41 Jahren, wurde Kurt Richter zur Wehrmacht eingezogen (1. Sanitäts-Ersatzkompanie, 3. Abteilung). In Guben stationiert führte er dort Trainings durch. O. a. Biografie, S. 230.
    Dass Richter mit der Unterdrückung von Namen und Nachrichten über Erfolge jüdischer Schachspieler nicht konform ging, beschreibt der 1971 aus der UdSSR nach Israel emigrierte Meister Savely Dudakov in seinem Buch “Caissa and Wotan” (2009). McGowan zitiert daraus ausführlich die Tricks mit denen Richter mutig die Nazizensur umging. Auch auf die Meinungen anderer ausländischer Zeitzeugen wird eingegangen.
    O. a. Biografie, S. 242-245.
    Kaufen Sie bitte das Buch von Alan McGowan! Ich habe nie eine bessere Schachbiographie gelesen. In diesem Buch stecken 40 Jahre akribische Recherche.
    In den Datenbanken BerlinBase_History und BerlinBase_Split finden sie mehr als 900 Partien und Ergebnisse von Kurt Richter aus Alan McGowans und meiner eigenen Forschung.
    Nach dem Krieg saß Kurt Richter öfter im Café Wöller in der Yorckstrasse in Berlin Kreuzberg. Er hatte von dort aus einen guten Blick auf die andere Straßenseite, wo die Nationalsozialisten ihren ersten Treffpunkt in einem Berliner Restaurant hatten. Das 3. Reich war Vergangenheit, Kurt Richter lebte.
    Bitte lesen sie auch diesen Blog-Beitrag über einen jüdischen Schachspieler, in dem ich auch den Antisemitismus anspreche: https://www.schachclubkreuzberg.de/berliner-schachgeschichten-ausgabe-7/

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